Kaligraphie als Medium interreligiöser Bildungsarbeit

Kaligraphie als Medium interreligiöser Bildungsarbeit
Bildrechte Thomas Amberg

Herbst-Winter 2023: „Her şeyi sevgiyle yapın“

Mit Achtsamkeit pinselt die junge Türkin die Verse der Jahreslosung 2024 auf ein Stück Aquarellpapier. Die Worte der christlichen Jahreslosung hat sie sich selbst aus einer Reihe von Versen ausgewählt und mit Hilfe anderer Frauen am Tisch in ihre Muttersprache übersetzt. „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Kor.16,14). Sie ist noch nicht lange in Deutschland und heute das erste Mal beim Interreligiösen Frauenfrühstück von BRÜCKE-KÖPRÜ.
Als Mann bin ich als Leiter von BRÜCKE nur deshalb hier im „Dialog-Team“ gemeinsam mit der muslimischen Religionspädagogin Muqaddes Sarɪ eine Einführung in Kaligraphie als spirituelle Erfahrung zu geben. Das Frühstück ist ein „Frauenraum“; die meisten kennen sich von den monatlichen Treffen; an diese Vertrautheit unter den Teilnehmenden dürfen wir im thematischen Arbeiten dieses Morgens anknüpfen. Rasch entsteht eine dichte Atmosphäre, in unserem und auch im Erleben der teilnehmenden Frauen.
Verschiedentlich haben wir im Herbst 2023 praktisch erkundet, was es heißt die Kunst des „Schönen Schreibens“ ganz praktisch und niederschwellig zu einem Dialogort werden zu lassen.
Was wir dabei erfahren ist Begegnung in mehrfacher Hinsicht: Drei Aspekte mag ich dabei benennen: Selbstbegegnung, Begegnung miteinander und in all dies hinein verwoben Gottesbegegnung.
Wir schreiben im Alltag kaum noch, „schön“, also achtsam bewusst davon noch seltener. Selbst Einkaufszettel werden von Vielen digital getippt. In einer Austauschrunde teilen viele ähnliche Erinnerungen aus der Kindheit, wo immer sie auch sein mag, ob im Irak, in der Türkei oder in Deutschland: Der Erinnerungen gehen zurück an quälende Schönschreibübungen mit Tinte und Feder oder Griffel, an gängelnde Lehrer oder gar die Erfahrung als Linkshänder*in „umerzogen“ worden zu sein. Die Ermutigung heute bewusst mit der Hand zu schreiben ist für viele eine Herausforderung. Sie braucht die Ermutigung, sich das Schreiben mit der Hand wieder neu zu trauen. Umso berührender ist es dann zu sehen, wie in der Begegnung mit einem einfachen Kaligraphie-Alphabet rasch und zur eigenen Überraschung „Schönes“ entsteht.
Wir haben verschiedene Materialien mitgebracht. Opas alten Griffelkasten, verschiedene Federn, bunte Tusche, aber auch ein paar Kaligraphiestifte und Pinsel mit Wasserreservoir, die es ermöglichen, Aquarellbuntstifte zu vermalen.
Großflächig legen wir eine Auswahl an Versen in Kopien aus: die „Schönen Namen Gottes“, beliebte Kaligraphiemotive ebenso wie bekannte Bibelverse für viele Gelegenheiten. Ein Textblatt versammelt Verse der Mystiker Meister Eckardt und Mevlevi Rumi.
Ein gegenseitiges Fragen und Erklären unter den Frauen beginnt, das es gilt so zu moderieren, dass Raum ist, sich gegenseitig wahrzunehmen und auch die Suche nach einem eigenen Text zu ermöglichen. Eine Teilnehmerin findet ihren Konfirmationsspruch, eine Andere schreibt den Koranvers auf, der zuhause in Damaskus im Wohnzimmer hing.
Ohne Erfolgsdruck, nicht mit dem Blick außen auf die Anderen oder dem Gefühl beobachtet zu sein, sondern eher im „Verweilen bei sich selbst“ beginnen die Teilnehmenden zu schreiben. Das Arbeiten auf wertigem Aquarellpapier statt billigem Druckerpapier, ist dabei ein wichtiges Detail: es signalisiert ein Eintreten in einen „Heiligen Raum“. Wir sind erstaunt, wie intensiv der Schreibprozess wird; zum Austausch in der Gruppe, kommt die Dimension der „Wortbegegnung“ hinzu. Eine konzentrierte Stille tritt ein. „Inkarnatorisch“, das Wort kommt mir in den Sinn, wenn ich versuche zu beschreiben, wie ich das Schreibgeschehen bezeichnen soll: die Verbindung zwischen Gruppengeschehen, einzigartiger, persönlicher Biographie und dem „Heiligen Wort“, im eigenständigen Schreiben. Manche verzieren die geschriebenen Verse im Stil von „Bible Journaling“ kreativ persönlich.
Die Teilnehmenden Frauen an diesem Abend nähern sich dem von ganz unterschiedlichen Seiten an, nicht zuletzt ihren verschiedenen Religionen, aber auch ihren Muttersprachen. Das gemeinsame Schreiben als „Dialogort“ lässt Trennendes zurücktreten, auch theologische Fragen, bei denen die meisten der Anwesenden sich kaum sprachfähig fühlen würden.
Am Ende der etwa eineinhalb Stunden steht das gemeinsame Betrachten unserer Werke in einer „Ausstellung“. Gemeinsam betrachten die auf dem Tisch liegenden Werke. Es ist Raum für persönliches Teilen: Warum, habe ich diesen und jenen Vers gewählt? Erneut wird hin- und herübersetzt. Entscheidend ist, dass hier jeder Eindruck einer Benotung vermieden wird.
Mit der Einladung die eigenen Kaligraphien mit nachhause zu nehmen und vielleicht auch aufzuhängen, endet der kurze Workshop. Einige bitte um die Textblätter, um Weitere Verse für sich abzuschreiben. Aus der Feder des deutsch-pakistanischen Kaligraphen Shahid Alam statt die Postkarte, die alle als „Give Away“ mitzunehmen eingeladen sind. Es sind die Worte des Jahreslosung 2023 „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Es bleibt die Hoffnung, dass die Dynamik des Schreibens „Heiliger Texte“ für die Teilnehmenden etwas von dieser Erfahrung erleben ließ.

Kaligraphie als Medium interreligiöser Bildungsarbeit
Bildrechte Thomas Amberg
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